Von katholischem Fundamentalismus bis hin zur extremen Rechten – ein vielschichtiges, loses Netzwerk aus Anti-Gender-Bewegungen breitet sich aus und führt zu neuen Herausforderungen.
2004 erlebte Spanien eine der ersten Massendemonstrationen in Europa gegen das Gesetz über die gleichgeschlechtliche Ehe, das kurz darauf in Kraft trat. Die katholische Kirche war aktiv an der Organisation der Kundgebungen beteiligt und geriet in die Schlagzeilen, als einige ihrer hochrangigen Mitglieder mit Spruchbändern zu sehen waren, auf denen gefordert wurde, die Ehe ausschließlich heterosexuellen Paaren vorzubehalten. Dabei demonstrierte die Kirche sowohl ihre Wirkmacht bei der Mobilisierung des konservativen Sektors der Gesellschaft als auch ihre bedeutsame Position als eine Schlüsselakteurin im Land. Abgesehen davon, hat der Katholizismus laut Cornejo und Pichardo Galán für die meisten Spanier*innen „keine große Bedeutung in ihrem täglichen Leben, ihren Werten oder der Politik…wobei gläubige Spanier*innen die Rechte ihrer nicht-heterosexuellen Freund*innen oder Verwandten über das Mandat der katholischen Hierarchie stellen.“1
Seit den Mobilisierungskampagnen der katholischen Kirche gegen unterschiedlichste progressive Politiken, die vom damaligen Präsidenten Zapatero in den 2000er Jahren eingeführt wurden, spielt die Institution eine weniger bedeutsame Rolle in ihrem Widerstand gegen Frauen- und LGBTIQA+-Rechte. Einzelne Abteilungen der Kirche beteiligen sich jedoch an Initiativen, wie den vom Bistum Alcalá organisierten „rechtswidrigen und heimlichen“ Konversionstherapien, um Homosexualität zu „heilen“.2
Andere Akteur*innen mit katholischen Wurzeln haben ebenfalls ihrem Widerstand gegen Feminismus und Gender Ausdruck verliehen, darunter Foro español de la familia (Spanisches Familienforum), Abogados Cristianos (Christliche Jurist*innen), verschiedene Anti-Abtreibungsgruppen und HazteOir (Verschaff Dir Gehör). Bei Letzterer handelt es sich um eine Organisation, die durch eine Kampagne 2017 in der Öffentlichkeit bekannt wurde: Dabei wurden große Werbeplakate auf einen Bus aufgebracht, auf denen die Existenz von Transpersonen geleugnet wurde und auf denen zu lesen war: „Jungs haben einen Penis. Mädchen haben eine Scheide. Lasst Euch nicht beirren. Wenn Du als Mann geboren wurdest, bist Du ein Mann. Wenn Du eine Frau bist, wirst Du auch eine Frau bleiben.“3 Einige Gründer*innen von HazteOir bekamen Mittel von einer internationalen Summer School beim neokonservativen US-amerikanischen Thinktank „Phoenix Institute“4, der sich selbst als Organisation, die sich „der Förderung eines tieferen Verständnisses der westlichen Tradition verschrieben hat“, beschreibt. 2013 rief HazteOir die Online-Plattform CitizenGo ins Leben, die ihren Hauptsitz in Madrid hat. Die Plattform gibt es mittlerweile in über zehn Sprachen; sie gilt als zentrales Instrument bei der Durchführung von Anti-Gender-Kampagnen in verschiedenen europäischen Ländern, darunter Ungarn, Italien und Polen.
Die Entstehung von Vox
Die rechtsextreme Partei Vox hat sich 2013 von der dominierenden rechtsgerichteten Partei PP abgespalten und war nach 2018 bei Regional- und Nationalwahlen erfolgreich. Neben ihrer primären politischen Strategie gegen regionalen Separatismus macht die Partei auch gegen die sogenannte „Geschlechterideologie“ mobil. Einige ihrer wichtigsten diskursiven Argumente werden in einem Buch beschrieben, das von der Regionalparlamentarierin Alicia Rubio verfasst wurde und den Titel trägt: „Wenn sie Euch verbieten, Frauen zu sein… und Euch verfolgen, weil Ihr Männer seid. Warum die Geschlechterideologie uns allen schadet.“ Während des ersten Corona-Lockdowns hat Vox aktiv versucht, die Verbreitung des Virus mit dem Feminismus in Verbindung zu bringen.
Verbindungen zwischen der Partei und anderen nationalen und internationalen neokonservativen Programmen werden in konkreten Kampagnen sichtbar, wie zum Beispiel in der von Vox beworbenen „Eltern-PIN“, die auch bei HazteOir ganz oben auf der Agenda steht. Ziel ist es, Eltern zu erlauben, progressiven Sexualkundeunterricht zu verhindern, indem die Schule verpflichtet wird, die Eltern um explizite Erlaubnis zu bitten, bevor Klassen zu diesen Themen organisiert werden.
Heute ist Vox als drittstärkste Kraft im Parlament etabliert und ist zu einem wichtigen Verbündeten für viele autonome Regionen, die von der spanischen Rechten regiert werden, geworden. Die Partei hat es geschafft, das Overton-Fenster, also den Rahmen an Ideen, die im öffentlichen Diskurs akzeptiert werden, erfolgreich zu verschieben. Zudem hat sie einen gewissen Einfluss auf die Gesetzgebung. Durch ihren Widerstand gegen das Gesetz über geschlechterbasierte Gewalt hat es die Partei geschafft, das Gesetz in der südlichen Region Andalusien durch das sogenannte Gesetz über „intrafamiliäre“ Gewalt zu ersetzen. Vox-Politiker*innen behaupten, dass es sich dabei um ein Mittel handelt, mit dem man Männer vor fingierten Anzeigen über häusliche Gewalt schützen und der vermeintlichen Privilegierung von Frauen im Gesetz ein Ende setzen möchte.
Vox ist immer wieder an der Verbreitung von Falschmeldungen beteiligt und behauptete beispielsweise, dass verschiedene progressive Schulprogramme zum Thema Sexualität Kindern beibringen würde, wie man masturbiert. Der Richter und andalusische Regionalparlamentarier, Francisco Serrano, spricht sogar von „homosexueller Indoktrination“, die in den Klassenzimmern stattfinde.5 Anfang des Jahres hat Twitter das offizielle Konto von Vox wegen Volksverhetzung gesperrt, nachdem Vox der stärksten Partei in der Regierungskoalition, PSOE, vorgeworfen hatte, sexuellen Missbrauch von Kindern durch ein regionales Schulprogramm zum Thema Geschlechtergleichstellung zu fördern.6
Die Spanische „Manosphere“
Es scheint sich eine spanische „Manosphere“-Bewegung herauszubilden, die Männer in ihrer Opposition zum Feminismus vereint. Wir erwarten, dass diese in den kommenden Jahren noch sichtbarer werden wird. Der Avantgarde-Stil der Vox-Partei sowie ihre diskursive Distanzierung von Religion übt auf viele Menschen eine große Anziehungskraft aus; es sind insbesondere junge Männer, die durch den „Männerrechte“-Kontext verführt werden. Bei ihrem Versuch, das Opfer-Täter-Verhältnis umzukehren, wofür die extreme Rechte international bekannt ist, schiebt die Partei Frauen- und LGBTIQA+-Erfahrungen beiseite, um von (vorwiegend cis- und heterosexuellen) Männern als den ultimativ Unterlegenen zu sprechen.
Einige wenige Influencer sind wegweisend mit der Behauptung, dass Feminismus eine sogenannte Supremacist-Ideologie sei. Ihr Einfluss lässt sich an der großen Zahl an Followern messen. Un Tio Blanco Hetero (was so viel heißt wie ‘Ein weißer Hetero-Typ’) ist einer der prominentesten YouTuber, der die soziale Plattform nutzt, um Feminismus zu kritisieren. Da er einige Zeit in Kanada gelebt hat, ist es denkbar, dass er von dem prominenten Psychologen Jordan Peterson inspiriert wurde, der über einen angeblichen „Rückschlag gegen die Männlichkeit“ theoretisiert.7 Auf seinem Kanal präsentiert sich Un Tio Blanco Hetero mit weißer Lycra-Maske, Handschuhen und Sonnenbrille, um den durchschnittlichen weißen Hetero-Typen zu verkörpern, der seiner Meinung nach überdurchschnittlich stark vom Feminismus angegriffen werde. Seine Videos kritisieren und verhöhnen, im Namen der Meinungsfreiheit, bekannte feministische Personen (vorwiegend Frauen), Politiken und Projekte, und lehnen gleichzeitig die sogenannte politische Korrektheit ab.
Wachsende Transfeindlichkeit
Transfeindliche Sichtweisen sind ein wesentlicher Bestandteil der Anti-Gender-Fiktion der extremen Rechten – nicht nur in Spanien, sondern auf der ganzen Welt. Transpersonen werden als Symbol für eine zugrunde gehende Gesellschaft angesehen, die im Begriff sei, ihre ‚natürliche‘ cisgender-Zweiheit zu verlieren, da die Grenzen zwischen Frauen und Männern verschwimmen. Treibe man diese Theorie ins Extrem, führe dies schließlich zur Zerstörung der Menschheit, wie wir sie kennen.
Transfeindliche Sichtweisen haben auch eine gewisse Prominenz innerhalb einiger Bereiche der feministischen Bewegung in Spanien und darüber hinaus erlangt, die in Transpersonen die Ausradierung der Kategorie „Frau“ als politisches Subjekt sehen. Auf einer Konferenz im letzten Jahr in der nordspanischen Stadt Gijón kamen eine Reihe von wichtigen spanischen Feminist*innen zusammen, die scherzhaft transfeindliche, vorwiegend gegen Transfrauen gerichtete Kommentare machten. Im Juni 2020 veröffentlichte Lidia Falcón, eine langjährige Aktivistin, die für ihren Einsatz für Frauenrechte bekannt ist und die während des Franco-Regimes gefoltert wurde, einen Artikel in dem Online-Magazin der rechtsextremen Organisation HazteOir. In diesem Artikel stellt Falcón die Frage: „Ist es töricht, dass Frauen Frauen sind und Männer Männer? Nicht einmal im Wunderland hätte ich mir eine solche Diskussion vorstellen können.“8 Vox hat Falcón dafür umgehend gelobt und ihr Parlamentsabgeordneter, Iván Espinosa de los Monteros, verteidigte ihre „pure Logik“ in Bezug auf Geschlechterthemen.9
Wir sollten nicht davon ausgehen, dass Verbindungen zwischen trans-ausschließenden radikalen Feminist*innen (TERFs) und der extremen Rechten weit verbreitet sind. Aber das Beispiel Falcón zeigt, wie Transfeindlichkeit den Kreis der Rechten überschreitet und Hass gegen Transpersonen im gesamten politischen Spektrum schürt. Nach den Worten der führenden Wissenschaftler*innen im Bereich Transgender Studies, Ruth Pearce, Sonja Erikainen und Ben Vincent, „haben [wir] die TERF-Kriege nicht gesucht; vielmehr haben die TERF-Kriege uns gefunden“10.
Ein Ausblick
Es gibt Hoffnung, da sich ein Großteil der spanischen Gesellschaft progressiven Werten verpflichtet fühlt und kein Interesse an dieser Form von konservativer Gegenreaktion hat. Gleichzeitig finden inklusive Formen des Transfeminismus Eingang in Aktivist*innenkreise und die Wissenschaft. Außerdem besteht Hoffnung darin, dass jüngere Generationen heute mit einem wachsenden Bewusstsein für feministische und LGBTIQA+-Themen sowie mit einer offeneren und weniger starren Haltung zu Sexualität aufwachsen, wie Mireia Montaña, Medienforscherin an der Open University of Catalonia, behauptet.11
Die Anti-Gender-Mobilmachung in Spanien hat sich in den letzten Jahren nicht nur weiter diversifiziert; sie ist auch wirkmächtiger geworden, da sie Eingang in Institutionen gefunden hat, vor allem durch den Einzug von Vox in das spanische Parlament und in verschiedene Regionalregierungen. Internationalen Trends folgend, hat es die spanische (extreme) Rechte geschafft, die Infragestellung und Anfechtung von sexuellen, reproduktiven Frauen- und LGBTIQA+-Rechten wieder salonfähig zu machen. Obgleich dieser Trend im Moment auf politischer Ebene nur beschränkt erfolgreich ist, könnte er langfristig nachteilige Folgen für die spanische Gesellschaft haben.
Quellen:
[1] Cornejo, M.; Pichardo Galán, J. I. From the Pulpit to the Streets: Ultra-Conservative Religious Positions against Gender in Spain. In Anti-Gender Campaigns in Europe: Mobilizing against Equality; Kuhar, R., Paternotte, D., Eds.; Rowman & Littlefield International: London, 2017.
[2] Villascusa, Á. El obispado de Alcalá celebra cursos ilegales y clandestinos para “curar” la homosexualidad. https://www.eldiario.es/sociedad/obispado-alcala-clandestinos-ilegales-… (accessed Nov 14, 2020).
[3] Santos, A. Bus with anti-transgender message is back on streets of Madrid. https://english.elpais.com/elpais/2017/06/06/inenglish/1496762308_00607… (accessed Nov 19, 2020).
[4] Barbería, J. L. Los secretos del Tea Party español. https://elpais.com/diario/2011/01/02/domingo/1293943954_850215.html (accessed Feb 8, 2019).
[5] El Plural. Vox insiste: “En los colegios andaluces se anima a las niñas a masturbarse”. https://www.elplural.com/politica/vox-francisco-serrano-acusa-colegios-… (accessed Nov 19, 2020).
[6] LaSexta.com. Twitter suspende la cuenta de Vox por “incitación al odio”. https://www.lasexta.com/noticias/nacional/twitter-suspende-cuenta-vox-i… (accessed Nov 19, 2020).
[7] BBC News. There is “a backlash against masculinity”. https://www.bbc.co.uk/news/av/world-us-canada-45084954 (accessed Nov 19, 2020).
[8] Falcón, L. El engrudo ideológico del género. https://www.actuall.com/familia/el-engrudo-ideologico-del-genero-por-li… (accessed Jun 19, 2020).
[9] Garcia, A. Vox abraza a Lidia Falcón tras su artículo publicado en web de HazteOír. https://www.moncloa.com/lidia-falcon-acusada-vox/ (accessed Nov 19, 2020).
[10] Pearce, R.; Erikainen, S.; Vincent, B. TERF Wars: An Introduction. The Sociological Review 2020, 68 (4), 677–698. https://doi.org/10.1177/0038026120934713.
[11] Sánchez Mateos, A. 10 datos sobre la Generación Z. https://www.lavanguardia.com/vivo/20180715/45818419326/dia-habilidades-… (accessed Nov 17, 2020).